„No hurry“ - „No bother“. Keine Eile - mach Dich nicht verrückt.
Irland - Insel am Rand der Zeit
Cití war gekommen, mit ihrer Flöte und ihren 91 Jahren, dazu Cathal, der vierzehnjährige, frischgekürte Banjochampion des Donegal. Éamonn, der Hausherr, junge 80 Jahre, spielte sein neues Akkordeon.
Sie saßen am knackenden Torffeuer. Es war Mai, aber der irische Frühling wollte sich noch nicht zeigen.
In der irischen Kultur sind sie tief verwurzelt: der Respekt vor dem Alter und die keltische Tradition der mündlichen Überlieferung. An diesem Abend tauschten Cití, Éamonn und Cathal Musikstücke untereinander aus. Es stockte, setzte neu an, fand und verlor sich und kam schließlich in Fluss - „No hurry“ - „No bother“.
Als das Feuer heruntergebrannt war verklangen die Töne, verliefen sich die Menschen, doch der Same war gesät wie seit vielen Generationen.
Wie aber steht es im 21. Jahrhundert, in den Zeiten der ewigen Beschleunigung, von Burn-out, Multitasking und Celebrity-Wahn um das „slow going“, um die viel zitierte, beschauliche irische Lebensart? Rangieren auch in Irland mittlerweile Konkurrenzdruck und Konsumgerangel vor einem recht intakten Sozialgefüge? Mancherorts sieht es auf den ersten Blick so aus. Aber auf dem Land – und was außer dem Großraum Dublin, Belfast, Cork, Limerick, Derry und Galway ist in Irland nicht Land, ist die Moderne zwar angekommen, eher aber als Turbulenz denn als tiefgreifende Veränderung. Von heute auf morgen verschiebt sich dort nicht das ganze Weltbild, das gewachsene Gefüge.
Es sind die Metropole Dublin und der Südwesten und Westen, welche die meisten Reisenden nach Irland ziehen. Der Kontrast könnte kaum größer sein – die Millionenstadt auf der einen Seite, ein Landstrich wie eine Etüde an die Kargheit auf der anderen. Dazwischen Farmland, Pferdeweiden, eingestreute Burgen, Schlösser und prähistorische Stätten.
Betrachtet man das nackte Zahlenwerk zur Insel, erfährt man Folgendes: maximale Ausdehnung Nord-Süd knapp 500 und Ost-West etwa 300 Kilometer. Aber die Küstenlinie misst stolze 5631 Kilometer. Letzteres zumindest erklärt sich schnell bei einem Blick auf die Karte: Südwesten, Westen und Norden sind von Buchten teilweise regelrecht zerfurcht und mit vorgelagerten Inseln dekoriert.
6.9 Millionen Menschen nennen Irland Heimat und noch immer ist die Insel im europäischen Vergleich ein kinderreiches Land, auch wenn der Satz von Flann O´Brien „Die durchschnittliche irische Familie besteht aus Vater, Mutter, zwölf Kindern und dem mit ihnen lebenden holländischen Völkerkundler“ nicht mehr zeitgemäß ist - was nicht nur daran liegt, dass die holländischen Anthropologen ihre Arbeit längst beendet haben.
Nach über 30 Jahren regelmäßiger und oft mehrmonatiger Besuche und mehr als drei Jahren Gesamtaufenthalt ist er lebendig wie eh und je, dieser Magnetismus, der mich immer wieder auf die Insel zieht. Es sind Momente, Bilder, Erinnerungsfragmente die mich begleiten. Eines davon zum Abschied.
Unter den zahllosen irischen Weltenden heißt eines „The Mullet“, eine hammerförmige Halbinsel im tiefen Westen. Eine häuserbesprenkelte Landenge verbindet sie mit dem Festland. The Mullet ist amphibisches Terrain. Flach, so flach, dass die Winterstürme die Gischt darüber hinwegtreiben. Fünf kleine Kerle spielen Fußball. Der Platz die Inkarnation des Faltenwurfs, das Tor ein windschiefer Kasten.
Am Südzipfel, am Blacksod Point, steht ein Leuchtturm aus Granit. Große, rundgewaschene Goliathkiesel aus Urgestein bilden den Übergang zur See. Die Welt schmeckt salzig, überall wehen die feinen Tröpfchen der Gischt. Keltenkreuze stehen am Meer. Ein alter Mann mit ein paar Kühen zieht vorbei, dann kommt die Nacht. Der Wind springt gegen die Fenster, leise fleht eine Geige, die Ruinen der alten Walfangstation bröckeln sachte vor sich hin. Hier ist gestern heute und heute morgen. Ein Austernfischer ruft und ein paar Stunden später schiebt sich die Sonne über die Kante der Welt. Der alte Wind bläst und ein neuer Tag beginnt.